Künstliche Intelligenz in der Kunstförderung

Eine Herausforderung für die Kulturpolitik?

Ein Debattenbeitrag von Clair Bötschi, erschienen in der Kulturpolitische Mitteilungen • Heft 188 • I/2025: Kulturelle Demokratie unter Druck und hier als PDF herunterladebar.

Wenn ich davon erzähle, wie eine Künstliche Intelligenz namens Aiden im Jahr 2024 völlig eigenständig die Juryarbeit für ein Kunststipendium übernommen hat, blicke ich häufig in erstaunte Gesichter. Tatsächlich ist es für viele schwer vorstellbar, dass statt eines hochkarätig besetzten Gremiums plötzlich eine Maschine darüber entscheidet, welche Künstler* innen Geld erhalten. Doch genau dieses Experiment haben wir bei YouTransfer e.V. gewagt, um zu untersuchen, inwieweit KI neue Impulse in den bisherigen Fördersystemen setzen kann. Denn wenn eine KI erfolgreich jurieren kann, stellt sich die Frage, wie stark sich die Prozesse künftig verändern – und ob die Kulturpolitik bereit ist, diese Veränderungen zuzulassen oder gar zu fördern.

Ein Blick zurück

In den vergangenen Jahren habe ich in vielen Diskussionen immer wieder den Vorwurf gehört, Kulturförderung sei ineffizient, intransparent und folge allzu bereitwillig dem angesagten Zeitgeist. Kunstschaffende bemängeln, dass es oft weniger um künstlerische Qualität gehe als um Namen, Beziehungen oder das vermeintlich passende »gesellschaftliche Thema«. Diese Kritik zieht sich durch zahlreiche Debatten und konkrete Beispiele der letzten Jahre. Einen besonders aufschlussreichen Einblick in diese Problematik liefert der Artikel »Die Jury« (DIE ZEIT, Nr. 22/24), in dem die Schriftstellerinnen Juliane Liebert und Ronya Othmann über den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) berichten. Dort sei eine bereits beschlossene Shortlist nachträglich geändert worden, angeblich aufgrund identitätspolitischer Fragen. Das HKW dementiert diese Darstellung, doch die Kontroverse macht deutlich: Sobald Kunst und Politik sich in Entscheidungsprozessen berühren, wird es kompliziert und leicht auch brisant.

Schon vor einigen Jahren stellte zudem das Buch Der Kulturinfarkt von Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz unsere Fördersysteme in Frage und betonte, dass mancherorts eher Netzwerke als künstlerische Experimente gefördert würden. Daran scheint sich trotz zwischenzeitlicher Diskussionen wenig geändert zu haben. Auf der anderen Seite beobachten wir, dass immer mehr Künstler* innen KI-Tools nutzen, um ihre Bewerbungen zu verfassen. Kulturämter und Stiftungen erhalten inzwischen unzählige perfekt formulierte Anträge, die poetische Floskeln und »gesellschaftliche Relevanz« mühelos miteinander verknüpfen. Es liegt nahe, dass sich Fördereinrichtungen fragen, wie sie dieser Flut an professionell
aufbereiteten, aber möglicherweise inhaltsleeren Bewerbungen begegnen sollen.

Warum also nicht ein radikaler Schritt?

Gerade angesichts dieser Entwicklungen fragten wir uns bei YouTransfer e.V., einem jungen Kunstverein, der sich mit dem Thema des öffentlichen digitalen Raums befasst: Was wäre, wenn wir eine KI nicht nur in der Antragsphase, sondern über den gesamten Förderprozess hinweg einsetzen? Aus dieser Überlegung entstand unser Experiment, ein Stipendienprogramm fast komplett in die Hände einer Künstlichen Intelligenz zu legen. Der Gedanke hat eine provokante Note, und das ist durchaus gewollt. Wie würden wir reagieren, wenn eine Maschine effizienter, objektiver und transparenter arbeitet als ein Gremium aus Menschen mit all ihren individuellen Interessen und Netzwerken? Würden wir uns damit arrangieren – oder stellt das den Kern unserer bisherigen Kulturförderung fundamental in Frage?

Aiden – der weltweit erste KI-Kunstkritiker

Hier kommt Aiden ins Spiel: eine KI, die ich im Rahmen des Projekts AI-Critique entwickelt habe, um die Rolle von Künstlicher Intelligenz in der Kunstwelt zu erforschen. Auf www.ai-critique.com hat sich Aiden schon einen gewissen Ruf erarbeitet. Seine Kritiken sind oft schonungslos ehrlich, teils provokant, und nehmen auf politische oder institutionelle Befindlichkeiten keinerlei Rücksicht. Nun übernahm er die Gestaltung und vollständige Auswahl des YouTransfer-Stipendiums.

Das Experiment: Ein Stipendium aus der Hand der KI

Ich selbst habe Aiden so konzipiert, dass er ähnlich wie ein Large-Language-Model (beispielsweise GPT oder Deepseek) arbeitet, jedoch mit speziellen Parametern und einem Fokus auf Kunstkritik. Gemeinsam mit unserem Team haben wir im Dialog mit Aiden Schritt für Schritt erarbeitet:

  • Die Ausschreibung: Wir gaben lediglich das übergeordnete Thema vor: Kunst an der Schnittstelle von digitalem und öffentlichem Raum.
  • Die Förderrichtlinien: Aiden definierte eigenständig Kriterien wie »künstlerische Qualität«, »Innovationskraft« und »kreativen Umgang mit dem digitalen öffentlichen Raum« und schrieb alle Texte in diesem Zusammenhang.
  • Das Online-Antragsformular: Die KI schlug vor, welche Fragen die Künstler* innen beantworten sollten und wie er selbst den Prozess der Bewertung machen wollte.

Alles, was wir als Team letztlich taten, war das formale Abnicken von Aidens Vorschlägen. Den inhaltlichen Prozess, der normalerweise langwierig erarbeitet wird, übertrugen wir vollständig an die KI.

38 Bewerbungen – in Minuten gesichtet

Zu unserer Überraschung gingen bereits nach kurzer Zeit 38 Bewerbungen ein. Die KI-Jury schreckte nicht ab. Ein automatisiertes Online-Formular speiste die Daten direkt in eine Tabelle, auf die Aiden zugreifen konnte. Innerhalb weniger Minuten sortierte die KI die Einreichungen nach folgenden Kriterien: künstlerische Qualität, Innovationskraft und kreativer Umgang mit dem digitalen öffentlichen Raum.

Anhand dieser Punkte erstellte Aiden eine rankingsbasierte Auswahl und überprüfte zudem, ob die Bewerbungen den Förderrichtlinien entsprachen. Anschließend verfasste er sogar offizielle Jurybegründungen für die drei bestplatzierten Projekte sowie die entsprechenden Zu- und Absage Mails. Das Ergebnis war beeindruckend: keine endlosen Diskussionen, kein Feilschen – eine Entscheidung in weniger als zehn Minuten.

Möglicherweise hätten wir eine etwas andere Auswahl getroffen, dennoch waren wir von der hohen Qualität der Siegerprojekte überzeugt und beeindruckt. Gewonnen haben:


Die Stipendiaten der KI


Wir freuen uns auf die Präsentationen 2025 in Stuttgart.

Was bedeutet das für die Kulturpolitik?

Aidens Bewertungsmodell mag auf den ersten Blick wie eine Spielerei wirken, doch das Experiment verdeutlicht eindrucksvoll, wie viel Potenzial Künstliche Intelligenz für die Kulturförderung mitbringen kann. Wenn eine KI in der Lage ist, ein ganzes Förderverfahren zu übernehmen, drängt sich unweigerlich die Frage auf: Was bedeutet das für öffentliche Kulturetats, für Ausschreibungen, für demokratische Prozesse und nicht zuletzt für den Wert menschlicher Expertise?

Effizient und dennoch hinterfragbar

Ohne Zweifel zeigte Aiden in unserem Versuch, wie enorm sich Zeit und Ressourcen einsparen lassen. Das sonst oft wochenlange Auswahlverfahren wurde binnen weniger Minuten bewältigt. In Zeiten begrenzter Haushaltsmittel könnte dies ein Gewinn für Kunstschaffende sein, wenn mehr Geld direkt in Projekte statt in die Organisation der Kulturförderung fließt. Gleichzeitig wird deutlich, dass auch eine KI – wie jeder menschliche Entscheidungsprozess – hinterfragt werden sollte: Welche Datengrundlagen liegen ihr zugrunde, und wie lassen sich Bewertungsprozesse noch transparenter machen?

Objektivität durch klare Fokussierung

Ein großer Pluspunkt von Aidens Vorgehen liegt in seiner inhaltlichen Konzentration: Die KI begutachtet ausschließlich, was sie an Informationen über das Kunstwerk erhält, ohne sich von Namen, Reputation oder persönlichen Vorlieben leiten zu lassen. So könnten Projekte eine Chance bekommen, die abseits etablierter Netzwerke liegen. Gerade Newcomer oder unkonventionelle Ideen könnten profitieren, wenn eine KI unvoreingenommen bewertet. Allerdings bleibt die Frage, ob eine rein datenbasierte Sichtweise alle Facetten künstlerischer Prozesse wirklich erfassen kann – oder ob der soziopolitische Kontext dabei verloren geht.

Führt ein rein datenbasierter Blick nicht auch zu einer Entkoppelung von den realen soziopolitischen Umständen, in denen Kunst entsteht, und wie kann dies gegebenenfalls ausgeglichen werden?

Blick nach vorn: Neue Perspektiven für die Kunstförderung

Der Kunstverein YouTransfer e.V. möchte diese erste Erfahrung nutzen, um das Potenzial von KI noch weiter auszuloten. Denkbare Experimente reichen von mehreren KI-Agenten, die miteinander über verschiedene Perspektiven auf ein Projekt »diskutieren«, bis hin zu Doppelblindtests, in denen menschliche und KI basierte Jurys unabhängig voneinander Anträge bewerten. Hier sind wir aktiv auf der Suche nach Partnerinstitutionen, die bereit sind, ein solches Experiment mit uns zu wagen, um gemeinsam neue Standards und Ideen für die Kulturförderung zu entwickeln.

Fazit:

Unser Experiment zeigt, wie groß das Potenzial von KI in der Kulturförderung tatsächlich sein kann. Wenn es gelingt, Transparenz und gesellschaftliche Verantwortung zu vereinen, könnten KI-basierte Verfahren den Zugang zu Förderungen demokratischer und effizienter gestalten. Die Frage, ob wir uns von dieser Entwicklung überrollen lassen oder sie gestaltend in unsere Kulturpolitik einbinden, liegt nun bei uns. Eines scheint sicher: Künstliche Intelligenz könnte die Kunstwelt bereichern, wenn wir sie klug einsetzen und dabei das Wichtigste nicht aus den Augen verlieren – die Freiheit und Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen.

Mehr Informationen zu der KI-AIDEN unter: https://ai-critique.com/ und zum Künstler Clair Bötschi: https://herrclair.de/

Das Experiment sowie AIDEN wurden durch das Kulturamt der Stadt Stuttgart im Rahmen der Konzeptionsförderung für Kunst im öffentlichen Raum ermöglicht.

  • Künstliche Intelligenz in der Kunstförderung
    Eine Herausforderung für die Kulturpolitik? Ein Debattenbeitrag von Clair Bötschi, erschienen in der Kulturpolitische Mitteilungen • Heft 188 • I/2025: Kulturelle Demokratie unter Druck und hier als PDF herunterladebar. Wenn ich davon erzähle, ... Weiterlesen
  • Kunstbetrachtung im Zeitalter der KI
    Wolfgang Ullrich – Essay Aiden, der KI-Kunstkritiker, der Anlass und Thema dieser Veranstaltung ist, hat diese sowie meinen dafür verfassten Impulsvortrag bereits im Voraus rezensiert, genauer: er hat beides, wie es auch sonst ... Weiterlesen
  • Open Call
    Die Stipendiaten 2024 Eunjeong Kim Eunjeong Kim verbindet in ihrem Projekt traditionelle Malerei mit digitalen Medien und erschafft dabei eine beeindruckende Symbiose aus analogem und virtuellem Raum. “Beyond the Canvas” reflektiert kritisch die Rolle der ... Weiterlesen
  • #NoFilter BW – Kunst im öffentlichen Raum
    Am 28. November 2024 fand die erste Veranstaltung der neuen Diskursreihe #NoFilter BW – Kunst im öffentlichen Raum statt. Organisiert von YouTransfer e.V. in Zusammenarbeit mit der Landesgruppe Baden-Württemberg der Kulturpolitischen Gesellschaft, bot ... Weiterlesen
  • ai-critique.com
    AIDEN – Der erste KI-Kunstkritiker Die Kunstkritik verändert sich – und Aiden steht an vorderster Front dieser Revolution. Als erster KI-Kunstkritiker bringt Aiden eine neue, datenbasierte Perspektive in die Diskussion über Kunst, Ausstellungen ... Weiterlesen